Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt

Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt

Organisatoren
Jörn Leonhard, Historisches Kolleg
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.01.2017 - 27.01.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Christina Ewald, Museum für Hamburgische Geschichte

Knapp 100 Jahre ist das Ende des Ersten Weltkrieges her und somit auch die Zeit der Erwartungen und Ängste, die mit dem Waffenstillstand begann. Die verschiedenen Nationen, Regionen und Empires waren unterschiedlich stark vom Krieg betroffen, der Neuordnung der Welt konnte sich jedoch kaum eine Region entziehen. Die von JÖRN LEONHARD (Freiburg) im Rahmen seines Forschungsstipendiums des Instituts für Zeitgeschichte am Historischen Kolleg veranstaltete Tagung bot eine Plattform, die Interessen und Erwartungen einzelner Weltregionen und spezifischer Akteure miteinander zu verknüpfen und nach Erfüllung und Enttäuschung eben jener Erwartungen zu fragen.

Schon im einleitenden Vortrag Leonhards wurde die Komplexität der Prozesse und Erwartungen um 1919 deutlich. Leonhard sprach von einem Moment der Verdichtung, Beschleunigung und Offenheit, wobei vor allem letztere in vielen folgenden Beiträgen wieder aufgegriffen und diskutiert wurde. Grundsätzlich rief Leonhard dazu auf, das Jahr 1919 nicht aus der Determiniertheit im Blick auf 1933 oder 1945 zu verstehen, sondern die relative Offenheit des historischen Moments am Ende des Ersten Weltkrieges für die historische Analyse fruchtbar zu machen.

Die erste Sektion war geprägt von einem Blick auf das östliche Europa und auf die Entwicklungen in Russland. GERD KOENEN (Frankfurt am Main) analysierte die Positionen von Woodrow Wilson und Wladimir Iljitsch Lenin, wobei er auch die Entwicklung des russischen Reiches und die Rolle Deutschlands bei dieser Entwicklung berücksichtigte. JOCHEN BÖHLER (Jena) erklärte die Kontinuität der Gewalt in Osteuropa mit den aus den Folgen des Ersten Weltkrieges entstandenen Bürgerkriegen, bei der mit militärischen und paramilitärischen Mitteln und unübersichtlichen Formationen ethnische, politische, nationalstaatliche Ziele verfolgt wurden.

In der folgenden Diskussion klang bereits die Mahnung an, die Polarität des Kalten Krieges nicht rückwärts zu lesen, hätten sich Wilson und Lenin doch gar nicht immer als Gegenspieler wahrgenommen. Diese These war wiederholt Gegenstand der Debatten. Der Kommentar zur ersten Sektion von JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena) stellte das Panel rückblickend noch einmal unter die Leitbegriffe von Demokratie und Nation und plädierte für eine Differenzierung der Nationsbildung in Identitätsbildung und staatliche Nationsbildung vor dem Hintergrund der voranschreitenden ethnischen Polarisierung in den Nachkriegsgesellschaften.

Die zweite Sektion öffnete den Blick auf die Kolonialgesellschaften und ihre Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg. BENEDIKT STUCHTEY (Marburg) referierte über die Kolonialismuskritik. Im Zentrum seiner Untersuchung standen dabei britische Kritiker und die Entwicklung ihrer Kritik im Kontext der Debatten über Demokratie. Dabei blickte Stuchtey zudem auf die Kritik am britischen Empire auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung. STEFAN RINKE (Berlin) führte aus, welchen Einfluss der Krieg auf die lateinamerikanischen Länder ausübte. Dabei wirkte der Krieg vielerorts als Katalysator für bereits bestehende emanzipatorische Bestrebungen sowie soziale und wirtschaftliche Befürchtungen, die in weiten Teilen Lateinamerikas zu Unruhen nach Kriegsende führten, die auf die „Wilsonianische Enttäuschung“ nach der Euphorie über das Kriegsende gefolgt waren. JAN SCHMIDT (Löwen) konzentrierte sich auf die japanischen Erwartungen. Dabei bezog er die Entwicklung seit 1915 ebenso mit ein, wie die Beziehung und die Vorstellung der zukünftigen Beziehung zu China, das japanische Selbstverständnis und die Einstellung gegenüber den USA. FLORIAN WAGNER (Hamburg) untersuchte die afrikanischen Erwartungen am Ende des Krieges. Hierbei betonte er, dass bereits vor 1919 viele langfristige Entwicklungen in Afrika eingesetzt hätten, die durch den Krieg verstärkt, nicht aber durch ihn initiiert worden seien.

JÜRGEN OSTERHAMMEL (Konstanz) lieferte den schriftlichen Kommentar zur zweiten Sektion, den Jörn Leonhard mit eigenen Anmerkungen vortrug. Osterhammel wies vor allem auf exogene Einflüsse, auf transnationale Medien und Öffentlichkeit sowie das Zusammenspiel von Hoffnung und Zurückweisung um 1919 hin.

ECKART CONZE (Marburg) eröffnete die dritte Sektion mit der Thematisierung der Beziehung von „Sicherheit“ und „Frieden“ im Völkerbund sowie der Entwicklung dieser Beziehung im Laufe des 20. Jahrhunderts, wobei er sowohl den Spannungsbogen von Lenins Friedensvorstellung zu Friedenskonzepten der westlichen Welt, als auch das Scheitern des Völkerbundes als Friedensgarant einbezog. PATRICK COHRS (New Haven) führte aus, weshalb der Versuch scheiterte, eine Sicherheitsordnung für Europa zu schaffen, die einen langfristigen Frieden ermöglichen sollte. Doch auf eine Sicherheitsordnung mit wirklich transnationalem Charakter seien die Vereinigten Staaten nicht vorbereitet gewesen. KATHRIN KOLLMEIER (Potsdam) widmete sich dem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang der kontinentaleuropäischen Imperien entstandenen Phänomen der Staatenlosigkeit, wobei sie neben der juristischen und diplomatischen Debatte der unmittelbaren Nachkriegszeit auch die Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts einbezog. MARCUS PAYK (Berlin) führte aus, wie das Völkerrecht von Alliierten und Mittelmächten instrumentalisiert wurde. Diente es im Krieg noch zur Rechtfertigung zur Partizipation auf alliierter Seite, nutzten die Verlierer die von den Siegern propagierte Verrechtlichung im eigenen Interesse.

In ihrem Kommentar zu diesem dritten Panel verwies ISABEL LÖHR (Leipzig) auf die Bereiche der New Diplomacy, des Internationalismus sowie des Transnational Law. Der Völkerbund, so Löhr, stellte den Versuch dar, alle Themen des staatszentrierten Internationalismus aus den Traditionen des späten 19. Jahrhunderts zu bündeln und den Frieden der Welt durch die Verrechtlichung von Kooperationen herbeizuführen.

Die vierte Sektion wandte sich demokratischen Ordnungsversuchen und Ideen zu. MANFRED BERG (Heidelberg) blickte dabei auf die USA und führte aus, wie sich die Unterstützung für Woodrow Wilsons Internationalismus in den USA entwickelte und wie sich verschiedene Formen des amerikanischen Nationalismus im ‚Treaty Fight‘ um die Ratifizierung der Beitrittserklärung zum Völkerbund gegen einen wenig kompromissbereiten Präsidenten hätten durchsetzen können. TIM B. MÜLLER (Hamburg) rekonstruierte die Entwicklung der Demokratie und der demokratischen Erwartungen in Europa, wobei er Deutschland immer wieder in den Fokus rückte. BORIS BARTH (Konstanz) führte anhand des Scheiterns des Liberalismus bzw. Parlamentarismus, der Nachkriegsgewalt, des hohen Grads an politischer Ethnisierung in der Nachkriegszeit und der Weltwirtschaftskrise aus, weshalb so viele Demokratien in Europa scheiterten.

Demokratie ist der Begriff, in dem sich Zeitgeschichte und Gegenwart berühren, so ANDREAS WIRSCHING (München) in seinem Kommentar zur vierten Sektion. Dabei forderte er, in Anlehnung an Leonhards einleitenden Vortrag, keiner Teleologie zu verfallen. Gleichzeitig plädierte Wirsching dafür, stärker auf Kontingenzen zu achten, und mahnte zur Vorsicht bei der Konstruktion von Kausalitäten. Für zukünftige Forschungen sollte die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus fruchtbar gemacht werden, um den daraus entstehenden großen Vergleichshorizont zu nutzen, wie von Jörn Leonhard eingangs gefordert. Mit Sicherheit darf man nach dieser interessanten Veranstaltung auf den Tagungsband gespannt sein. Die Publikation der Vorträge ist für 2018/19 geplant.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Andreas Wirsching (München)

Jörn Leonhard (Freiburg), Die Konkurrenz der Versprechen – Globale Ordnungsvisionen am Ende des Ersten Weltkrieges

Sektion I: Grenzen und Räume – Territorialität und Nationsbildung im Zeichen des Gewaltkontinuums

Gerd Koenen (Frankfurt am Main), Lenin und Wilson – ein welthistorischer Vergleich

Jochen Böhler (Jena), Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Die Kontinuität der Gewalt in Ostmitteleuropa über 1918 hinaus

Kommentar: Joachim von Puttkamer (Jena)

Sektion II: Kolonialkritik und Anti-Imperialismus – Globale Modelle und lokale Kontexte

Benedikt Stuchtey (Marburg), Demokratie nach dem Krieg? Große Erwartungen an die Kolonialismuskritik

Stefan Rinke (Berlin), Große Skepsis: Lateinamerikanische Zukunftserwartungen bei Kriegsende 1918/19

Jan Schmidt (Löwen), „Den Pazifismus Anglo-Amerikanischer Provenienz beseitigen!“ – Das Japanische Empire und das Scheitern des „Wilsonian Moment“ in Ostasien

Florian Wagner (Hamburg), Ermächtigungsfrieden oder Ernüchterungserlebnis? 1919 aus afrikanischer und panafrikanischer Perspektive

Kommentar: Jürgen Osterhammel (Konstanz)/Jörn Leonhard (Freiburg)

Sektion III: Neue Internationalismen – Ordnungsmuster kollektiver Sicherheit und internationaler Kooperation

Eckart Conze (Marburg), Sicherheit statt Frieden. Die Pariser Konferenz und die internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit

Patrick Cohrs (New Haven), Die Suche nach einer atlantischen Sicherheitsordnung. Ein Schlüsselproblem der Neuordnungsprozesse von 1919

Kathrin Kollmeier (Potsdam), Erwartungen und Enttäuschungen: Staatenlosigkeit als transnationale Semantik der Zugehörigkeit nach 1918

Marcus Payk (Berlin), Vertrag und Diktat. Die Pariser Ordnung von 1919/20 und das Völkerrecht

Kommentar: Isabella Löhr (Leipzig)

Sektion IV: Partizipation und Versorgung – Massendemokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit als neue Ordnungsversprechen

Manfred Berg (Heidelberg), „Wir sind keine Internationalisten, wir sind amerikanische Nationalisten!“ Das Scheitern des Wilsonianism in den USA

Tim B. Müller (Hamburg), „The universal acceptance of democracy as the normal and natural form of government“. Demokratische Erwartungen nach 1918 – eine europäische Skizze

Boris Barth (Konstanz), Die Krise der europäischen Demokratie nach 1918

Kommentar: Andreas Wirsching

Abschlussdiskussion